Willkommen im Prozess!
Ein Mensch ist nie nur eins. Er ist nie nur eine Oberfläche dessen, was wir sehen oder glauben zu sehen. Unsere Identität, wer wir sind, besteht aus verschiedenen Schichten, aus verschiedenen Stücken und Fragmenten der Dinge, die wir mögen, der Dinge, die wir sind, der Dinge, mit denen wir uns identifizieren.
Ein Findungsprozess
Diese Fragmente zu finden, sie zusammenzusetzen zu einem Ganzen, ist ein Prozess, in dem wir suchen, was uns ausmacht. Manchmal scheinen die Teile auch nicht zusammenzupassen. Entweder sind es dann nicht die richtigen Teile oder es sind Teile, die wir gerade erst entdeckt haben und erst mehr über sie erfahren müssen. Dieser Identitätsprozess ist mitunter ein langwieriger und schmerzhafter Prozess – nicht nur, aber vor allem für Menschen, die in unserer Gesellschaft marginalisiert werden. Den Menschen, die nicht einer gesellschaftlich erdachten Norm entsprechen, werden durch Vorannahmen und Vorurteile von außen Identitätsfragmente aufgedrängt – es sind aber meist die falschen. Manche fühlen sich sperrig an, manche zu dominant, manche schlicht störend und falsch.– Bis ein Bild, das aus eigenen, selbstbestimmt und im Inneren gefundenen Fragmenten entsteht, sich stimmig anfühlt, vergeht oft viel Zeit. Bis dahin fühlen sich Menschen oft unvollständig oder falsch zusammengesetzt.
Ein solcher Findungsprozess ist aber nicht nur schmerzhaft und langwierig – er ist auch wichtig: sich selbst zu erforschen, sich auseinanderzunehmen, in den Einzelteilen zu betrachten und dabei ihre Zusammengehörigkeit, ihre Verwobenheit, ihre Intersektionalität zu erkennen, kann ebenso heilsam sein. Fügen sich die Fragmente zusammen, verbinden sie sich, wird dieses Bild stimmig. Es bildet das Selbst, die eigene Identität ab.
Collagen – aus Fragmenten entsteht ein Ganzes
Die Form der Collage symbolisiert diesen Prozess und die Vielschichtigkeit der Abbildung einer Identität. Um eine Collage zu erstellen, werden verschiedene Elemente auf eine tragende Fläche geklebt, sie werden zusammengefügt, zueinander angeordnet, um damit ein neues Ganzes zu schaffen. Die Fotomontage ist eine spezielle Collage aus Fotografien. Sie wird oft genutzt, um politischen Dissens oder Widerstand auszudrücken, zum Beispiel im Dadaismus als Protest gegen den Ersten Weltkrieg, als auch im Kampf gegen Faschismus, Polizeigewalt und andere soziale Ungerechtigkeiten.
Die Menschen, die durch Pain Pride Pose sichtbar werden, begaben sich in die innere und äußere Collagenarbeit. Sie setzten sich mit verschiedenen Aspekten ihrer Persönlichkeiten auseinander, erstellten in mehreren Workshops Collagen und konnten dabei frei entscheiden, welche Elemente sie nutzen und wie sie sie einsetzen.
Aus diesen Collagen, den Texten, die in weiteren Workshops entstanden, und aus den Begegnungen mit den Teilnehmenden zog ich meine Inspiration für die Fotocollagen. Der gemeinsame kreative Prozess mit den Teilnehmenden war ungemein wichtig. Denn die gesellschaftliche Erfahrung Schwarzer, indigener Menschen und People of Color sowie geflüchteter oder migrierter Menschen in Deutschland ist viel zu oft diese: Sie erzählen nicht selbst, sie werden erzählt – und das in der Regel verzerrt, reduziert oder schlicht falsch. Die Erzählung und Abbildung der Identitäten in dieser Ausstellung ist die der Teilnehmenden selbst. Sie werden sichtbar, durch Worte, Fragmente und Fotografien.
Der weiße Raum
Die Fotografien entstanden in einem weißen Raum. Ein weißer Stuhl, ein weißer Tisch, ein weißer Hintergrund. Der Raum kann alles repräsentieren: die deutsche Gesellschaft, die Familie, den Freund*innenkreis, den Arbeitsplatz, die queere Community, die Heimat… In dieser reduzierten Umgebung konnten die Teilnehmenden ihren eigenen Raum und ihre Positionierung darin suchen und finden. Sie stellten sich Fragen: Welcher Raum ist gerade für mich relevant? Wie fühle ich mich in diesem Raum? Wie kann ich dieses Gefühl ausdrücken, darstellen? Fühlt sich eine Person willkommen und präsent in einem Raum, kann sie zum Beispiel in der Mitte stehen. Ist sie nicht präsent oder fühlt sich nicht willkommen, ist vielleicht nur ihr Rücken oder nur eine Hand, nur ein Bein oder ein anderes körperliches Fragment zu sehen.
Fotografin Nora Hase
Nora Hase lernte durch ihren Großvater ihre Liebe zur Fotografie, entdeckte sie im Studium aber noch einmal völlig neu für sich. Während dieser Zeit entwickelt sie eine spezielle Faszination für die inszenierte Portraitfotografie. Wiederkehrende Themen in ihrer Fotografie sind Diversität, Inklusion und Repräsentation. Die queere Schwarze Künstlerin lebt und arbeitet in Köln.
Die Ausstellungsstücke
Die Menschen, die sich in pain pride pose zeigen, wurden von mir porträtiert und haben sich gleichzeitig selbst porträtiert, in ihrem Schmerz, in ihrem Stolz, in selbstgewählter Pose. Der Austausch und die Rücksprache mit den einzelnen Teilnehmenden waren sehr fruchtbar und wichtig für die Entwicklung der finalen Fotocollagen. Gleichzeitig war es ein Balanceakt, mit den Meinungen und Wünschen von 15 Teilnehmenden und drei Teammitgliedern umzugehen und gleichzeitig meinem künstlerischen Ausdruck Raum zu geben. – Ich bin dankbar für diesen herausfordernden, kreativen und komplexen Prozess mit all diesen Menschen in all ihren Fragmenten.
Nun sind sie sichtbar. Und ich bin gespannt, welche Reaktionen ihre Sichtbarkeit hervorrufen wird. Ich wünsche allen Menschen, die die Ausstellung besuchen, dass sie sich fragen, wie sie es tun. Es ist entscheidend, mit welcher Absicht wir uns betrachten. Was suchen wir?
– Nora Hase